In der Offenbarung des Jakobus, einem apokryphen Evangelium, das nicht in die Bibel aufgenommen wurde, wird von Ereignissen und Einzelheiten rund um die Geburt Christi berichtet, die in den bekannteren Versionen der Weihnachtsgeschichte in den Evangelien von Matthäus und Lukas nicht vorkommen. Insbesondere werden in dem Evangelium des Jakobus sehr realistische Menschen voller Emotionen und widerstreitender Gefühle geschildert. Maria und nicht Jesus steht im Mittelpunkt der Erzählung. Die Weihnachtsgeschichte wird bei Jakobus in einer anschaulichen, dramatischen und fast schon theatralischen Art und Weise dargestellt. Howard Armans Weihnachtsgeschichte reiht sich in die Tradition von Werken wie Bachs »Weihnachtsoratorium«: Neu komponierte Vertonungen des Evangeliums wechseln sich mit Chorälen ab. Gregorianische und mehrstimmige Choräle sowie etliche Motetten aus dem 17. Jahrhundert sind in Armans Komposition eingewoben und bilden eine zweite erzählerische Ebene. Sie umrahmen die Episoden der Weihnachtsgeschichte und können auch als musikalische Reaktionen auf die erzählten Begebenheiten verstanden werden. Ergänzt wird die neue CD von BR-KLASSIK mit den Chorälen aus Peter Maxwell Davies’ Weihnachtskantate »O magnum mysterium«.
Der sprachlichen Kraft und Mystik des Evangeliums nach Jakobus setzt Arman die Reduktion der musikalischen Mittel aufs Wesentliche entgegen: Einstimmiger Gesang, syllabisch konzipierte solistische Passagen und als einziges begleitendes Instrument eine Drehleier, die mit ihrem monotonen, archaischen Klang für eine gewisse Zeitlosigkeit steht. Dies bewirkt maximale Textverständlichkeit, wobei durch emotionalen deklamatorischen Gesangsstil die Figuren fast schon als Personen einer szenischen Bühnenhandlung erscheinen. Ein zentraler Moment ist die Vision Josephs kurz vor der Geburt Christi: Die Zeit scheint stillzustehen; mit poetischen Worten voll sprachlicher Gegensätze und Widersprüche wird die mystische Erhabenheit dieser Szene hervorgehoben. Aus Armans einstimmigem Gesang entwickeln sich die in seine Weihnachtsgeschichte integrierten Choräle und Motetten von der Einstimmigkeit hin zu immer größerer Mehrstimmigkeit. So führen drei Vertonungen von Nicolaus Zangius, Hieronymus Praetorius und Hans Leo Hassler in steigender Besetzungsgröße zu einer vierten, zehnstimmigen Komposition von Melchior Vulpius, die auf die Worte »Frieden auf Erden« schließt.
In ihrer formalen Anlage weist Armans Weihnachtsgeschichte Ähnlichkeiten mit Peter Maxwell Davies’ Kantate »O magnum mysterium« auf. Auch dieses Werk – 1960 für den Chorleiter der Kathedrale von Manchester geschrieben – besteht aus Chorälen und instrumentalen Sonaten, wobei die Reihenfolge nicht zwingend vorgeschrieben ist. Insbesondere die vier a cappella-Choräle bilden inhaltlich und musikalisch eine selbständig funktionierende Einheit.
