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Was läuft eigentlich falsch, Mr. Thoreau?

Einsamkeit als größtes Glück, Weltferne als Chance, Naturnähe als Inspiration. 

Wenigstens einer glaubt fest daran, dass wir gestärkt und moralisch erneuert aus den Krisen unserer Tage hervorgehen können: Henry David Thoreau.


Er gibt keine Interviews, aus Prinzip nicht, wie er auch sonst eher einer von der menschenscheuen Sorte ist. Für seinen deutschen Hausverlag hat der prominente Social-Distancing-Experte und Verfechter des Rechts auf zivilen Ungehorsam allerdings jetzt eine Ausnahme gemacht. Von seinem Rückzugsort aus, einer Hütte am Walden-See im US-Bundesstaat Massachusetts, äußert er sich erstaunlich positiv über das, was unsere Welt derzeit in Bann hält – und über die Zeit danach.

Ein (fiktives) Interview von Horst Lauinger

Lauinger:
„Mr. Thoreau, viele Menschen hadern derzeit mit der allgemeinen Situation. All die Krisen in der Welt – immer mehr Menschen macht das Auseinanderdriften von Gesellschaften und ihre Vereinsamung zu schaffen. Sie leben nun schon seit fast einem Jahr allein im Wald. Was ist Ihre Glücksformel?“

Thoreau: „Hauptsache, man feiert den Tag. Warum sich unterkriegen lassen und mit dem Strom schwimmen? … Ich für mein Teil finde es zuträglich, die meiste Zeit allein zu sein.“

Lauinger: „Sie hausen in der Abgeschiedenheit, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Jede Reise und jede Veränderung beginnt mit dem ersten Schritt. Was stand am Beginn Ihres Rückzugs?“

Thoreau: „Gegen Ende März borgte ich mir eine Axt und begab mich in den Wald, wo ich mir am Ufer des Walden-Sees mein Haus zu bauen gedachte; in der Nähe begann ich ein paar schlanke, hohe, noch junge Weißtannen als Bauholz zu fällen. Es ist schwierig anzufangen, ohne dass man sich etwas borgt, aber vielleicht hat das auch sein Gutes; die Mitmenschen haben so Anteil an dem Unter­nehmen … So war ich einige Tage damit beschäftigt, Bäume zu fällen und zu behauen, Stützpfeiler und Dachsparren herzustellen, alles mit meiner schmalen Axt.“

Lauinger: „Das klingt nach harter körperlicher Arbeit und nach Schwielen an den Händen.“

Thoreau (lacht): „Dass einer sich sein Haus selber baut, scheint sinnvoll; der Vogel baut sich sein Nest ja auch selber.“

Lauinger: „Welche bereichernde Erfahrung haben Sie während Ihrer monatelangen splendid isolation gemacht?“

Thoreau: „Mein Experiment hat mich zum mindesten das eine gelehrt: Wer sich getrost von seinen Träumen leiten lässt und das Leben zu leben sucht, das ihm vorschwebt, dem ist ein im Alltagsleben unerwarteter Erfolg beschieden. Man lässt allerlei hinter sich, man überschreitet eine unsichtbare Grenze, und neue, allgemeine und freiheitlichere Gesetze kommen in einem selbst und um einen herum zur Geltung; oder dann werden die alten Gesetze in einem liberaleren Sinne ausgelegt, und man lebt unter Geschöpfen einer höheren Ordnung. Je mehr man sein Leben vereinfacht, umso übersichtlicher werden auch die Gesetze des Weltalls, und Einsamkeit ist dann nicht mehr Einsamkeit, Armut nicht mehr Armut, und Schwäche nicht mehr Schwäche.“

Lauinger: „Wurde es Ihnen ganz ohne menschliche Gesellschaft nicht irgendwann langweilig?“

Thoreau: „Langeweile kann bei einer solchen Lebensweise nicht aufkommen … Während ich an diesem Sommernachmittag am Fenster sitze, kreisen Habichte über der Lichtung; Wildtauben schießen zu zweit oder dritt vorbei oder lassen sich auf die Zweige der Weißtannen hinter dem Haus nieder und leihen der stillen Luft eine Stimme; ein Fischadler kräuselt die glasklare Wasserfläche und holt einen Fisch herauf; ein Nerz schleicht sich aus dem Ried vor meiner Tür und packt am Ufer einen Frosch; die Schilfrohre biegen sich unter dem Gewicht der Wasservögel, die hin und her flattern …“

Lauinger: „Und Sie fühlen sich dabei tatsächlich nie einsam?“

Thoreau: „Warum sollte ich mich einsam fühlen? … Einsamkeit bemisst sich nicht nach dem Abstand zwischen uns und den andern.“

Lauinger: „Eine bemerkenswerte Einsicht. Aber Hand aufs Herz, gibt es nicht manchmal Momente, in denen Sie Ihrer Waldeinsamkeit überdrüssig sind?“

Thoreau: „Ein einziges Mal bedrückte mich ein Gefühl der Einsamkeit, und das war ein paar Wochen, nachdem ich in den Wald gezogen war. Eine Stunde lang war ich im Zweifel, ob der Umgang mit Menschen nicht unerlässlich sei für die Seelenruhe. Allein zu sein schien mir unerfreulich. Gleichzeitig war ich mir aber bewusst, dass meine Stimmung etwas Krankhaftes hatte, und ich sah gewisser­maßen ihr Abklingen voraus. Während ich mitten in einem sanften Regen von diesen Anfechtungen heimgesucht wurde, empfand ich plötzlich, wie wohltätig der Kontakt zur Natur ist; das Geprassel des Regens und alles, was rings ums Haus zu hören und zu sehen war, umfing mich mit einer so grenzen­losen und unbegreiflichen Freundlichkeit, dass die vermeintlichen Vorzüge menschlicher Tuchfühlung zur Bedeutungslosigkeit verblassten, und seither habe ich keinen Gedanken mehr daran verloren.“

Lauinger: „Das klingt nach einer besonderen Selbsterfahrung und nach echter Naturverbundenheit.“

Thoreau: „Jede kleine Tannennadel öffnete mir ihr Herz.“

Lauinger: „Haben Sie Prinzipien oder Gebote, nach denen Sie leben?“

Thoreau: „Einfachheit, Unabhängigkeit, Großmut und Zuversicht heißen diese Gebote.“

Lauinger: „An wen genau wendet sich Ihre Feier der Einfachheit? An Zivilisationsverächter? An Workaholics in der Midlife-Crisis? An kapriziöse Naturliebhaber? Oder an Abenteurer auf der Suche nach dem letzten noch unentdeckten Fleckchen Erde?“

Thoreau: „Ich habe nicht im Sinn, Lebensregeln aufzustellen für Kraftnaturen, die sich allen Umständen zum Trotz durchsetzen und vielleicht großartiger bauen und mit dem Geld verschwenderischer umgehen als die Reichsten, ohne deswegen innerlich zu verarmen, weil sie sich keine Gedanken darüber machen, wie sie leben – falls es solche Kraftnaturen, von denen man liest, überhaupt gibt. Auch schreibe ich nicht für diejenigen, die ihren Lebensmut aus den bestehenden Verhältnissen beziehen und mit der Inbrunst von Liebenden daran hängen – in gewissem Sinne zähle ich mich selber zu ihnen. Ebenso wenig wende ich mich an solche, die in einer nützlichen Beschäftigung aufgehen, was die Betreffenden selber am besten beurteilen können. Ich schreibe vornehmlich für die vielen, die unzufrieden sind und untätig mit ihrem harten Schicksal oder den schweren Zeiten hadern, obschon sie beides verbessern könnten.“

Lauinger: „Mit Ihrem Gegenentwurf stellen Sie das kapitalistische System, die Arbeitsethik und unsere Leistungsgesellschaft grundsätzlich in Frage. Was macht der Mensch aus Ihrer Sicht falsch?“

Thoreau: „…. der Mensch schuftet unter dem Eindruck eines Irrtums. Sein besserer Teil ist bald als Dünger unter den Boden gepflügt. Wegen eines scheinbaren Schicksals, gemeinhin Notwendigkeit genannt, müht er sich damit ab, Schätze zu sammeln, die die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben, um sie zu stehlen. Es ist eine Dummheit, so zu leben ...“

Lauinger: „Aber es lässt sich doch schwerlich leugnen, dass viele Ihrer amerikanischen Landsleute so ihr Glück gemacht haben?“

Thoreau (räuspert sich): „Selbst in diesem verhältnismäßig freien Land sind die meisten Menschen aus bloßer Unwissenheit und Verblendung so von künstlichen Sorgen und von überflüssiger Schwerarbeit beansprucht, dass sie nicht dazu kommen, die feineren Früchte vom Baum des Lebens zu pflücken. Ihre Finger sind von der übermäßigen Plackerei zu unbeholfen und zittrig dafür. Das Erwerbsleben lässt dem Menschen nicht genug Zeit, um den Alltag menschenwürdig zu gestalten; er kann es sich nicht leisten, den andern Menschen gegenüber menschlich aufzutreten; es könnte ja den Marktwert seiner Arbeit beeinträchtigen. Er hat keine Zeit, etwas anderes als eine Maschine zu sein.“

Lauinger: „In Ihrem Buch ,Walden‘ schreiben Sie: ,Eine neue Generation lässt das Tun und Treiben der vorhergehenden im Stich wie ein auf Grund gelaufenes Schiff.‘ Was raten Sie den jungen Leuten heute, die auf die Straße gehen und für eine ressourcenschonende Lebensweise protestieren?“

Thoreau: „Wenn man etwas versucht, was die alten Leute für unmöglich hielten, wird man fest­stellen, dass man es tun kann. Altes Tun und Treiben für alte Leute; neues Tun und Treiben für neue.“

Lauinger: „Und was raten Sie demnach den Alten?“

Thoreau: „Das Alter taugt nicht zum Lehrmeister der Jugend, hat es doch weniger gewonnen als eingebüßt. Man möchte fast bezweifeln, dass selbst der Weiseste dadurch, dass er gelebt hat, etwas von unbedingtem Wert erfuhr. Als Wegleitung fürs Leben haben die Alten den Jungen nichts von Belang zu geben; ihre Erfahrungen waren eigennützig, ihr Leben war ein kläglicher Misserfolg, aus besonderen Gründen, wie sie annehmen müssen. Und möglicherweise haben sie sich aller Erfahrung zum Trotz noch etwas Lebensmut bewahrt und sind bloß nicht mehr so beweglich.“

Lauinger: „Aber haben Sie denn nicht auch von den Alten gelernt?“

Thoreau: „Ich habe gut dreißig Jahre auf diesem Planeten gelebt und warte noch immer auf den ersten brauchbaren oder auch nur erwägenswerten Rat eines älteren Menschen. Man hat mir nichts beigebracht, kann mir wahrscheinlich gar nichts Brauchbares beibringen. Das meiste von dem, was meinen Nachbarn als gut gilt, halte ich zutiefst für schlecht …“

Lauinger: „Stört es Sie eigentlich, dass Sie in weiten Teilen der Weltöffentlichkeit als lust- und genussfeindlicher Waldschrat gelten?“

Thoreau: „Die öffentliche Meinung ist ein müder Tyrann verglichen mit unserer eigenen, privaten Meinung. Was einer von sich selber hält, gibt seinem Schicksal die Richtung.“

Lauinger: „Das Krisenjahr 2023 neigt sich dem Ende zu. Ihr Wahlspruch für 2024?“

Thoreau: „Jede Veränderung, in Erwägung gezogen, ist ein Wunder, doch das Wunder findet dauernd statt.“

Lauinger: „Sehr geehrter Mr. Thoreau, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.“

(Sämtliche Antworten Thoreaus sind wortwörtliche Auszüge aus seinem Buch „Walden“, einer Art grüner Bibel, die 2020 in Neuausgabe im Manesse Verlag erschienen ist.)

Henri David Thoreau bei Manesse

Das Wichtigste über Henri David Thoreau

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Henri David Thoreau war ein amerikanischer Schriftsteller, Philosoph und Abolitionist des 19. Jahrhunderts. Er wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren und war ein enger Freund von Ralph Waldo Emerson. Thoreau war ein wichtiger Vertreter des Transzendentalismus, einer philosophischen Bewegung, die Individualismus und die Einheit von Mensch und Natur betonte.

In seinem berühmten Buch "Walden" beschreibt er seine Erfahrungen während seines Aufenthalts am Waldensee, wo er ein einfaches und erfülltes Leben zu führen versuchte.

Thoreaus Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" hatte großen Einfluss auf die Bürgerrechtsbewegung und Mahatma Gandhis Widerstandsphilosophie. Er betonte auch frühzeitig die Bedeutung des Umweltschutzes und inspiriert bis heute Menschen in ihrem Streben nach Wahrheit, Frieden und Naturverbundenheit. Henri David Thoreau ist ein zeitloser Denker, dessen Ideen auch heute noch aktuell sind.