Immanente Kritik auf dem Grund hoffender Verzweiflung und: auf den Spuren von Kant und Hegel
Peter E. Gordon konnte ich gut in seinem Adorno-Verständnis, dass dieser uns, wenn auch implizit, eine lebensbejahende Anschauung vermitteln wollte, folgen. Betreibt jemand Mitteilung, auf welche Weise auch immer, hat er meines Erachtens immer noch Hoffnung, mit sich selbst und/oder mit der Menschheit: aufgrund des Glaubens daran, dass die gegenwärtige Mitteilung eine Auswirkung auf die Zukunft haben kann. Diese Komponente, die anscheinend andere Kritiker nicht so interpretiert haben, sieht Gordon ebenso bei Adorno.
Den aufzubringenden WIDERSTAND gegen die Schockstarre nach dem zweiten Weltkrieg (und nachdem es wieder leichter möglich war, in Deutschland etwas zu veröffentlichen) erkennt Gordon bei Adorno und beschreibt ihn mit dessen geprägtem, an Hegel orientiertem, Begriff der immanenten Kritik .
Meines Erachtens können wir bei der Geschichtsschreibung nur aus unserer aktuellen Warte heraus (Zeit und Ort!) rekonstruieren, aber nicht damalige Anschauungen ins Heute transferieren. Transformieren unter Beachtung der Andersheit einer damaligen Zeit mag bedingt funktionieren; dies ist es, wie Gordon, auch in Weiterführung des Forschungsstands bzgl. Adornos immanenter Kritik , vorgeht.
Anhand der literarischen Übertreibungen Adornos, die Gordon gut ausfindig gemacht hat, und sicherlich einiger anderer literarischer Stilmittel, konnte Adorno für den Augenblick und vielleicht einige Jahre lang ablenken (indem man ihn für einen absoluten Pessimisten hielt) und die konträre Aufdeckung für spätere Zeiten, wie es sich nun (durch Gordon) beweist, bewahren. Das Aufzeigen von Widersprüchen im damaligen Jetzt, deren Auflösung auf die Zukunft verweist, kann als enormer Kunstgriff verstanden werden.
Laut Adorno herrsche die Akzeptanz solcher Widersprüche nur beim Idealisten, da dieser die Lösung, die Versöhnung, entweder als schon realisiert ansehe oder auf ein Transzendentes verschiebe. Nach Adorno sehe der Materialist die Widersprüche in der vom Tauschhandel geprägten Gesellschaft als ungelöst, teilweise sogar als unlösbar (offene Dialektik). Wichtig ist laut Adorno das Erkennen der Dialektik und der ihr innewohnenden Antizipationsmöglichkeit, was ich mit Es ist möglich, aus vergangenen Fehlern zu lernen! übersetzen würde.
In Bezug auf die Aussage Adornos vom falschen Leben möchte Gordon nicht, dass dieser als Lebensverneiner oder als Mephistophelist angesehen wird - ich denke, dass beides durchaus phasenweise zutraf, vor allem aufgrund des zeitlichen Hintergrunds, in dem Adorno seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Auch während der Weimarer Republik war Deutschland enorm instabil - aus diesen Schwankungen herauszuarbeiten, welche Grundlinie verfolgt wurde, ist eine große Kunst. Und Gordon präsentiert uns eine plausible Gedankenführung, indem er Adornos Verfahren der immanenten Kritik fragmentiert, wobei immanent als Gegensatz zu transzendent zu verstehen ist. Es erscheint aufgrund der bis zur heutigen Zeit gesammelten Erfahrungen sinnvoll, die Deutung in Bezug auf die damalige Zeit solchermaßen vorzunehmen. Ideologien und Verheißungen aufgrund der sich manifestierenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als etwas Jenseitiges einzuordnen und das Postulat aufzustellen, sich vorrangig mit dem Hier und Jetzt (wozu auch die jeweils zugehörigen Normen gehören!) zu befassen. Wissend, dass sowohl Verhalten als auch Normen etwas Brüchiges sind, dennoch Adorno solchermaßen interpretierend, dass er uns das Kitten der Fugen ohne Unterlass nahelegen wollte. Im Optimismus, dass solch ein Tun etwas näher hin zur Transzendenz im Diesseits, hin zum Glück, führt. Das immer prekär war, ist und ebenso bleiben wird.
Zur immanenten Transzendenz passt die Erwähnung von Beethovens Oper Fidelio, welche Adorno mit der Metapher des Lichtstrahls, der in den düsteren Kerker fällt, beeindruckt hat. Der wahre Lebenskünstler wäre wohl nun, wer eine Glasscherbe im Kerker nutzt, um diesen Lichtstrahl zu reflektieren und zu streuen, auf dass die weiteren Insassen etwas davon haben oder draußen einer bemerkt, dass der Kerker überhaupt bewohnt ist. Ohne Denken kein Handeln, ohne Handeln kein Verändern. Die Lichtmetapher beschreibt sehr gut den eingangs erwähnten antizipierenden Charakter von Adornos Schriften, und, dass neben der Beleuchtung des menschlichen Verhaltens auch die geltenden Normen beleuchtet werden können/müssen zwecks der Möglichkeit der iterativen Erneuerung und einer hoffentlich positiven Auswirkung auf die Zukunft.
Nur marginal ist vom Unbewussten die Rede, erst auf Seite 270 fällt der Name FREUD: dies verwirrte mich insofern, dass Adorno ja von einer Hinwendung des Subjekts zum Objekt spricht bzw. die Wichtigkeit des Objekts über das Subjekt stellt. Ist nicht das Unbewusste und vor allem das kollektive Unbewusste in herausragender Weise Objekt? Bezüglich der Zweifel an individueller Therapierbarkeit anhand der Psychoanalyse stimme ich Adorno zu, aber in Übertragung auf das Kollektiv sind Freuds Thesen meines Erachtens enorm wichtig. Da auch Adorno die Erinnerung, das Eingedenken hervorhebt, müsste hier meiner Meinung nach die Positionierung im Hinblick auf den psychoanalytischen Aspekt von Gruppenverhalten verstärkt beleuchtet werden.
Bei Kant kritisiert Adorno zwei der drei Bausteine zum summum bonum : Unsterblichkeit und Gott. Dies ist stimmig mit seiner Ablehnung, den Lohn für Tugendhaftigkeit (und somit auch die Ahndung von Nicht-Tugendhaftigkeit) auf das Jenseits zu verschieben. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege ist die Zurückweisung dieser Kant´schen Postulate (die zudem meines Erachtens im Sinne eines Kompromisses seiner damaligen Zeit geschuldet sind, siehe obiges Zitat von Spinoza) mehr als verständlich, zeigte doch vor allem das dritte Reich die Macht von Ideologisierungen und Verheißungen, vor denen wir weltweit nach wie vor nicht gefeit sind und weiterhin nur auf die Vernunft eines Großteils der Menschheit hoffen können.
Dass wir, wenn wir Leiden reduzieren, Glück als Ergebnis erhalten. Abgesehen davon wäre eine gerechtere Verteilung schon ein Anfang, unfraglich erreichbar durch Adornos anhand vorausgesetzter Erfahrungsoffenheit des Subjekts postulierte Empfänglichkeit für den Schmerz anderer - dieses dem Menschen nicht von alleine gegebene Hineinversetzen in andere . Die dadurch entstehenden kleinen Glücksmomente seien keine Konstruktionen der Vernunft, sondern vor allem empirisch erfahrbar.
Die Lichtmetapher kommt erneut auf den Plan bei der Monographie Adornos über Gustav Mahler, der ca. 100 Jahre nach Beethoven lebte und komponierte. Er vergleicht Mahler mit jemandem, der eine Glasscherbe aufliest und sie zwecks Farbenspiel gegen die Sonne hält. Interessanterweise findet sich diese Metapher auch in der neueren Religion des Bahaitums, um die Dreifaltigkeit zu veranschaulichen. Bei Adorno entspräche dann das Farbenspiel Mahlers Musik im Sinne eines heiligen Geistes. Wie auch beim, zeitlich zwischen den beiden genannten, komponierenden Wagner, sieht Adorno vor allem im Spätwerk aller das Heldentum in denjenigen Passagen/Figuren, die Schwäche (VERZWEIFLUNG) verkörpern und dennoch für HOFFNUNG stehen wollen: als schon die Avantgarde antizipierende Schrift von Wahrheit .
Kants Auffassung des Erhabenen widersprechend, vertritt Adorno die Sicht einer Verschiebung von Natur- hin zu Gesellschaftskatastrophen, was sich auf die menschengemachten Schandtaten von unter anderem Auschwitz bezieht und im geschichtlichen Kontext somit völlig verständlich ist. Adornos Normativitätsquellen erfordern keine Rechtfertigung oder Begründung (in Worten), sondern das auf Selbstkritik gründende menschliche Handeln solle diese schlichtweg illustrieren - ein auch für heutige Zeiten passender, drängender Hinweis.
Phasenweise kann man sich in Gordons Buch oberflächlich in Wiederholungen verstrickt sehen und auch die Verwendung vieler Konjunktive mag Unsicherheit vermuten lassen - insgesamt aber punktet das Werk für mich gerade durch die unaufdringlichen und stringent verfolgten Bekräftigungen seiner These. Vor allem durch die Beispiele aus der Musik, mit den im letzten Viertel des Buches zu findenden Notationen und zugehöriger musikwissenschaftlicher Beschreibung, veranschaulicht Gordon in auflockernder Weise sein Forschungsinteresse. Autonome Kunstwerke vermitteln durch die zeitgleiche Beinhaltung von Ideologie und Kritik Glück (als Versprechen) und ebenso Schmerz. Wo Kant schon die Autonomie des Menschen selbst aufzeigte, wäre ein Vergleich in Bezug auf die Dialektik des Individuums eine Untersuchung wert. Julia Kristeva hat hierzu verschiedene Werke vorgelegt. Peter E. Gordon gelangt in angenehmem Schreibstil zu einer meines Erachtens logischen Bestätigung seiner These von Adorno als Verfechter des menschlichen Gedeihens im empathischen Sinne.
Abschließend zieht der Autor seine Schlussfolgerungen im Hinblick auf die heutige Zeit, dies finde ich sehr gelungen, da die erörterten Fragestellungen im derzeitigen Weltgeschehen aktueller sind denn je. Er betont die Sinnhaftigkeit des Antifundamentalismus (im philosophischen Verständnis), von der auch Adorno überzeugt war. Dann geht es um ein Forschungsprojekt von 1950 in Berkeley, das Gründe für Hinwendung zum Extremismus untersuchte, welche heute sicherlich auch noch zutreffen, und es findet sich somit im Buch doch noch ein geschilderter Zusammenhang zwischen Gruppengeschehen und Psychologie des Individuums. Wichtigstes Gut sei hier die Erfahrungsoffenheit des Einzelnen und somit einer Gesellschaft, womit sich Adorno von Hegels geschlossenem System abgrenzen lässt. Im Weiteren vergleicht Gordon Adornos Philosophie noch mit der Heideggers und Foucaults, sowie auch Prousts Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nicht fehlen durfte, worin Adorno eine ihn beeindruckende THEOLOGIE DES DIESSEITS zur Erreichung des einzigen Glücks, des menschheitsumfassenden, fand.