»Der heimliche Weg. Drei Scenen aus einem Ehedrama« erschien im Winter1900/01. Im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé nimmt diese Erzählungeine Sonderstellung ein, denn im Mittelpunkt steht keine einzelneProtagonistin, sondern ein berufstätiges Ehepaar mittleren Alters, das aneinem Lebenswendepunkt steht. Wechselseitige Heimlichkeiten lassendiese Ehe, »die harmonischste im ganzen Zarenreich«, an einem einzigenWintertag zerbrechen.Lou Andreas-Salomé wirft in dieser Erzählung existentielle Fragen auf:Können sich Männer und Frauen überhaupt verstehen? Oder geht jederMensch letztlich doch seinen eigenen, »heimlichen« Weg, den er auch vordem Partner verbirgt? Außerdem hält Lou Andreas-Salomé allen modernenberufstätigen Frauen einen Spiegel vor: Sind diese abgearbeiteten Frauenwirklich glücklich? Das moderne Berufsmenschentum entlarvt sie als eineSphäre männlicher Selbstverwirklichung, die dem weiblichen Wesennicht entspricht. »Liebesmenschen sind wir«, lautet ihre Gegenvision.Mit diesen »Unzeitgemäßen Betrachtungen« zu Erotik und Frauenfragetritt Lou Andreas-Salomé im kulturkritischen Diskurs der Jahrhundertwendeals ein weiblicher Nietzsche auf.»Der heimliche Weg« ist eine weitgehend vergessene Erzählung von LouAndreas-Salomé. Hier erscheint sie zum ersten Mal seit ihrem Erstabdruck1901.